In der Bibel geht es um die alten, immer wieder kehrenden Menschheitsfragen wie zum Beispiel: Was macht den Wert eines Lebens aus? Wie können wir miteinander in Frieden leben? Menschen machen Fehler, wie gehen sie und wie gehen wir selbst damit um? Worauf können wir am Ende unseres Lebens hoffen?
Die durchaus auch unterschiedlichen Antworten der Bibel erweitern unseren Erwartungshorizont, geben uns Mut und Phantasie zum Leben und helfen uns, unser Leben gelingen zu lassen. Dabei fühlen wir uns beim Lesen der Bibel in der Regel eher nicht bestätigt in unserer Handlungsweise, in unserer eigenen Weltsicht und Deutung der Dinge. Oft möchte man ausrufen: Wie naiv! Wie unrealistisch! Wie ungerecht! Wie umständlich! Aber auch: Wie schön! Wie leicht! So müsste es sein! Das Lesen der Bibel wirkt immer auch kritisch-inspirativ.
Die Sprache der Bibel ist oft mythologisch, aber sie ist intuitiv verstehbar. Es beginnt schon im „Paradiesgarten“. Adam und Eva als Urbilder des Menschen überhaupt vollziehen mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis einen entwicklungspsychologisch notwendigen Tabubruch. Das nicht freiwillige Verlassen des paradiesischen Ortes (der Kindheit) ist ein Schritt in die Selbständigkeit, in die selbstverantwortete Mündigkeit.
Die Bibel wird mir immer deutlicher als ein Buch vom Erwachsenwerden des Menschen und der Glaube als eine Kraft, die diesen Entwicklungsprozess unterstützt.
Die Redeweise der Bibel ist oft gleichnishaft wie eine Fabel, in der Tiere ja sprechen können. Und obwohl jeder weiß, dass es nicht wahr ist, dass Tiere sprechen können, ist die Fabel in anderer Weise eben doch wahr, weil sie eine Botschaft, einen bestimmten Sinn transportiert. In diesem übertragenen und zu erforschenden Sinn sind viele Geschichten der Bibel zu verstehen.
Die Bibel selbst ist eine Sammlung von zuerst mündlich überlieferten, dann schriftlich festgehaltenen Berichten, Erzählungen, Gedichten, Überlegungen, Briefen und Visionen. Menschen haben darin ihre Erfahrungen mit Gott und mit den Menschen ihrer Zeit aufgeschrieben. Später wurden diese einzelnen Schriften zu einem Ganzen zusammengefügt. Die Bibel ist Literatur und kann auch mit literarkritischen Methoden hinterfragt und analysiert werden. Auf Grund ihrer sehr langen und vielfältigen Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte, die wie ein Filter, manchmal auch wie ein Magnet gewirkt hat, liegt die Bibel wie ein verdichtetes (verdichtet sowohl im Sinne von literarisch verarbeitet als auch im Sinne von stofflich komprimiert) Menschheitsgedächtnis vor uns, in dem menschliche Erfahrungen mit der Frage nach Gott verknüpft und ineinander verwoben sind.
In dem langen und verzweigten Überlieferungsprozess hat sich eine behutsame, allmähliche Auswahl der Schriften ereignet. Hinzu kamen Deutungsversuche und Kommentare, die selbst wiederum Gegenstand der Überlieferung wurden, so dass man die heute vorliegende Sammlung als einen geläuterten und in dieser Weise autorisierten Erfahrungsschatz verstehen kann. Aber nicht jedes Wort der Bibel ist an sich schon „Gottes Wort“. Es muss aus dem, was geschrieben steht, erschlossen werden.
Die Geschichten der Bibel haben für mich immer erst dann so richtig zu leuchten begonnen, wenn ich darin einen existentiellen Zusammenhang mit meiner konkreten Lebenssituation entdecken konnte.
Erhard Wurst
Glaube im christlichen Sinne ist kein Für-wahr-halten von Ereignissen, weder vergangenen noch zukünftigen, sondern ist Glaube im Sinne von: Ich glaube an Dich = Ich vertraue Dir, ich traue Dir etwas zu. Glaube ist eine Beziehungsaussage. In dem ich Gott vertraue, werde ich meine Erfahrungen mit ihm machen. Glaube ist kein Produkt intellektueller Anstrengung, aber ohne innere Reflexion und äußere Auseinandersetzung ist er wohl nicht zu haben. Wer dem aus dem Wege geht – vielleicht auch mit ängstlicher Ahnung davon, dass Gott dann ja womöglich als Wirklichkeit ins eigene Leben treten könnte – vermeidet jede Annäherung, bleibt dann allerdings auch von einer Dimension des Lebens unberührt.
Glaube kann nicht objektiv sein, weil das eigene Subjektive immer mitschwingt. Es hat auch etwas damit zu tun, seinen eigenen Erfahrungen, seinen Deutungen zu trauen. Wann es aber zu dieser Art inneren Übereinkunft kommt, ist nicht meinem Willen überlassen. Ich kann mich nicht einfach entschließen, ab heute an Gott zu glauben, sowie ich mich nicht ernsthaft entschließen kann, mich morgen zu verlieben. Es ist eher jeweils ein erreichter innerer Zustand, der zum Glauben drängt, ein „Überlaufen" reflektierter Erfahrung.
Der christliche Glaube, wie ich ihn im Raum der Kirche kennengelernt habe und wie er für mein Leben wichtig geworden ist, ist eine erwachsene, aufgeklärte Form der Religiosität. Auch wenn der Friede Gottes höher ist als alle Vernunft (Philipperbrief 4,7) ist der Glaube selbst nicht unvernünftig.
Christlicher Glaube kann nicht für sich bleiben. Er will artikuliert, gelebt und damit öffentlich werden. Darum mischen sich Christen völlig zu Recht auch immer wieder in die Politik ein. Im Kern bedeutet Leben im christlichen Glauben nicht Aufopferung, nicht Verzicht, nicht Gebote einhalten. Das kann auch alles sein und sinnvoll sein. Im Kern bedeutet Christsein einen Schatz zu besitzen, einen inneren Schatz: Von der Lebensfreude, von der Schöpfungsfreude, von der Liebe Gottes angesteckt zu sein und davon weiter zu geben.
Erhard Wurst
Sie kommen im Glaubensbekenntnis unserer Kirche nicht vor. Und dennoch spielen sie in biblischen Erzählungen und fast mehr noch in der Volksfrömmigkeit eine Rolle. Gern werden sie auch in der christlichen Kunst mit viel Phantasie dargestellt.
Eigentlich bedeutet das Wort „Engel“ nichts anderes als „Bote“ und dann denken wir doch eher an Menschen, die eben - bewusst oder unbewusst - eine bestimmte Botschaft zu überbringen haben, Impulse geben, ein kritisches Wort sagen, einen Weg weisen. R. O. Wiemer schreibt in einem Gedicht: „Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel …“
Erhard Wurst
Der Tod ist nicht das Ende der Liebe. Die urchristliche Gemeinde erlebt, dass Jesus weiterwirkt. Die geistliche Gemeinschaft mit Christus bleibt, sie macht Mut, inspiriert, lässt selbst auf(er)stehen schon mitten im Leben.
Ewiges Leben ist eine qualitative Aussage, keine quantitative Aussage. Das ewige Leben ist nicht die geisterhafte Verlängerung unserer irdischen Existenz und Auferstehung ist nicht die materielle Wiederherstellung oder Kontinuität unserer gegenwärtigen Körperlichkeit. Ewiges Leben bedeutet, dass wir bei Gott unendlich wertvoll sind - wie im Leben so auch im Tod - und darum nicht verloren gehen können.
Ewiges Leben bedeutet, dass wir mit unserem Wesen, mit dem, was unsere Person ausmacht, zu Gott gehören und auch der Tod daran nichts ändern kann. Der auch in der Bibel verwendete Begriff „Seele“ ist (inzwischen?) zu materiell gedacht und darum an dieser Stelle eher irreführend. Vielleicht habe ich ein zu archivarisches Verständnis von der Ewigkeit. Aber weil es das „Archiv“ (das Lebensbuch) Gottes ist, bleiben wir darin nicht nur formal (auf)bewahrt, sondern sind so eng mit ihm verbunden, dass wir lebendigen Anteil haben an seiner Ewigkeit.
Darin gründet sich meine Hoffnung für dieses Leben und darüber hinaus.
Erhard Wurst
Viele Fragen führen uns hin zu Gott: Wie ist das Leben und das ganze Universum entstanden? Gibt es so etwas wie grundsätzliche Regeln, die das Zusammenleben der Menschen einfacher machen? Was kann ich über mein begrenztes Leben hinaus erhoffen? In jeder Kultur und zu allen Zeiten wurden diese Fragen gestellt. Die Bibel erzählt von Menschen, die ihre Antwort auf diese Fragen bezeugen: Gott ist der Schöpfer. Er will, dass das Leben in Frieden und Gerechtigkeit gelingt. Bei ihm bleiben wir auch über den Tod hinaus der eine unendlich wertvolle, geliebte Mensch.
Wie kann man sich diesen Gott vorstellen?
Gott ist nicht sichtbar und nicht vorzeigbar. Er ist kein gegenständliches Götzenbild. Andererseits können wir nur im Rahmen unserer menschlichen Möglichkeiten über ihn nachdenken und von ihm reden. Er begegnet uns in den Glaubenserfahrungen, die andere Menschen mit ihm gemacht haben und die davon in der Bibel erzählen. Und wir können im Gebet mit ihm reden wie mit einer Mutter / wie mit einem Vater. Das ist zugegeben eine ziemlich personale Vorstellung von Gott. Aber es ist wohl die uns höchste Form des Vorstellbaren. Sich Gott als etwas Abstraktes wie ein ewiges Prinzip vorzustellen, bleibt dahinter zurück. Eine personale (Hilfs-)Vorstellung aber eröffnet eine Beziehungsaufnahme. Diese Beziehung bedeutet Anrede, Anspruch, Dialog, bedeutet Leben. Götzen kann der Mensch zur Seite rücken und austauschen, „ewige Prinzipien“ kann er in Formeln bringen und sich so davon sachlich distanzieren. Aber er kann in einer personalen Beziehung, deren Teil er ist, sich nicht verstecken vor Gott, wie Adam es versuchte in der Erzählung vom Paradiesgarten.
Gott wirkt in die Geschichte hinein, aber nicht in der Form, dass er alles bewegt und steuert wie in einem Marionettentheater. Er wirkt durch sein Wort und durch von seinem Wort bewegte Menschen. Was er darüber hinaus in ganz direkter Weise bewirkt in den Möglichkeiten der uns bekannten und uns noch unbekannten Naturgesetze und vielleicht auch darüber hinaus außerhalb aller Gesetzmäßigkeit, ahne ich nicht.
Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, so heißt es im ursprünglichen dritten Gebot. Gott lässt sich nicht festlegen auf unsere Vorstellung. Der hebräische Gottesname „Jahwe“ bedeutet: „Ich bin, der ich bin.“ Andererseits geht es gar nicht anders, als dass wir uns eine (un)gewisse innere Vorstellung von Gott machen. Wir dürfen dabei nur nicht vergessen, dass es sich dabei immer nur um ein vorläufiges Bild handeln kann. Damit ist zugleich klar, dass das Eigentliche, für uns Unausprechbare, Nichtabbildbare, nicht Fassbare dahinter verborgen bleibt. Gottes Wahrheit können wir „jetzt nur wie in einem dunklen Spiegel“ (1.Korintherbrief Kap.13) erfassen. Aber wir können uns ihr annähern: Durch unsere eigenen Erfahrungen mit Gott und mit den Erfahrungen anderer (Bibel, Predigt, Literatur, Musik, Kunst, …) und das auch in verschiedener, sich ergänzender Weise.
Bei aller zugesagten Nähe bleibt uns Gott allerdings auch manchmal fremd und unverständlich. Ich vermute aber, es geht nicht ohne diese Fremdheit und Verborgenheit Gottes. Er bleibt eben auch „Der-Ganz-Andere“.
Erhard Wurst
Nicht wir dienen Gott mit dem Besuch eines Gottesdienstes, das hätte er gar nicht nötig. Er nähret sich nicht „kümmerlich von Opferhauch“, wie Goethe in seinem „Prometheus“ zutreffend die antike Götterwelt beschreibt. Der Gott, an den ich glaube, hat sich in dem Menschen Jesus von Nazareth dazu entschlossen, den Menschen einen Dienst zu erweisen. Und in jedem Gottesdienst erneuert sich dieser Dienst und wird erlebbar.
Gott lädt uns ein und will uns dienen. Im Gottesdienst kann ich im Lichte des Zuspruchs Gottes mein Leben oder vielleicht auch nur meine letzte Woche reflektieren, meinen Denkhorizont erweitern, in Lied und Gebet mit geliehenen Worten das aussprechen, was mir zu sagen schwerfällt, andere Menschen mit ihren Problemen und Erfahrungen in den Blick bekommen, selbst neuen Lebensmut finden und meine Hoffnung stärken lassen darauf, dass am Ende nicht Gier und Geld die Welt regiert.
Erhard Wurst
Um dem Bedeutungsinhalt des biblischen „Himmel“ auf die Spur zu kommen, ist es sehr hilfreich, die beiden englischen Übersetzungen dafür gegenüberzustellen. „Sky“ meint den sichtbaren Himmel über uns. „Heaven“ meint das Himmlische im übertragenen Sinne und steht für das „Reich Gottes“.
Jesus hat oft davon gesprochen. Er meinte aber dabei weniger einen Ort, mehr einen Zustand und er hat dafür gleichnishafte Bilder verwendet: Ein Hochzeitsfest, Ankommen im heimatlichen Haus, eine Festtafel, Tischgemeinschaft, überraschende Entlohnung am Abend nach der Arbeit im Weinberg, . . .
Das Reich Gottes und unsere Welt, das sind wie zwei Parallelen, die sich erst in der Unendlichkeit (Ewigkeit) schneiden. Aber schon jetzt gibt es so etwas wie „Wurmlöcher“ in der Zeit (ein hier nur gleichnishaft verwendeter Begriff aus der Astrophysik), in denen wir für Momente, sozusagen punktuell für Augenblicke, für Episoden, etwas vom Reich Gottes erleben, es hindurch scheint, schimmert, manchmal in einer Person (Freunde, Schriftsteller, alte Bäuerinnen, Kinder, fremde Gesprächspartner auf der Reise, …) oder nur in bestimmten Situationen kurzzeitig (bei dem Erklimmen eines Berggipfels, an einem gemeinschaftlich gedeckten Tisch, wenn einer sagt: „Ich vergebe dir“, in einem erotisch prickelnden Augenblick, beim Hören oder Mitsingen eines bestimmten Liedes, in dem Spüren der eigenen Kongruenz, einer inneren Stimmigkeit, …) Das ist das „schon hier und noch nicht“ des Reiches Gottes, das ist (theologisch gesprochen) der Zusammenhang von präsentischer und futurischer Eschatologie.
Die Hölle ist kein realer Ort, sie bezeichnet biblisch eher einen Zustand der Gottesferne. Erst in der Volksfrömmigkeit – wesentlich geprägt durch Dantes „Göttlicher Komödie“ - ist daraus eine phantasievoll ausgeschmückte Folterkammer geworden. Aber so, wie es im wirklichen Leben Augenblicke „wie im Himmel“ gibt, so kann es auch Situationen geben, die sehr real als „Hölle auf Erden“ erlebt werden: Entweder so diffizil, wie Sartre es meinte (Die Hölle, das sind immer die anderen.) oder in einer tatsächlichen Folterkammer. In beiden Fällen wären es aber menschengemachte höllische Zustände.
Erhard Wurst
Jesus war ein Mensch, von einer Frau geboren und im Auftrag eines römischen Statthalters in Jerusalem gekreuzigt. Auch außerhalb der Bibel gibt es schriftliche Hinweise auf das Leben von Jesus, er ist zweifelsfrei eine historische Person.
Von Jesus wird berichtet, dass er Gott so nahegestanden hat, wie ein Sohn dem Vater. In diesem Sinne war er Gottes Sohn. Er hat konsequent Gottes Liebe gelebt, hat Menschen aus körperlichen und seelischen Zwängen befreit, denn das vermag die Liebe Gottes. Dabei ist er in Konflikt mit menschlichen Interessen, Eitelkeiten und Machtansprüchen geraten. Jesus ist diesem Konflikt nicht ausgewichen, ist selbst dabei aber gewaltlos geblieben. Dieser Konflikt endete am Kreuz.
Von außen betrachtet war die Kreuzigung eine Niederlage. Aber es ist doch auch ein Zeichen dafür, dass einer sich nicht von seinem Weg hat abbringen lassen, dass er seinen Weg konsequent weiter gegangen ist. Denn er hätte sich auch retten können durch eine geschickte Verteidigung oder durch Widerruf. Was hätte er aber widerrufen sollen? Die Liebe Gottes?
Es ging nun nicht mehr nur um den Menschen Jesus, sondern um Gott selbst. Denn Gott bekennt sich so sehr zu Jesus, dass er sich zunehmend ganz in ihm leibhaftig verkörpert.
Es gibt die menschliche Tendenz, sich eher einen hart strafenden Gott zu wünschen, der in seiner strikten Gerechtigkeit auch wieder berechenbar ist, eine Projektion menschlicher Gesetzlichkeit. Der über alle Maßen liebende Gott bleibt uns unheimlich. Aber gerade die bis zur Selbstaufgabe reichende Liebe macht das christliche Gottesbild aus. Gott belässt es nicht dabei, dass Jesus (schließlich Gott selbst, seine Art Gott zu sein) von den Menschen verhöhnt und abgelehnt wird. Er will den Menschen gewinnen, aber nicht mit Macht, sondern mit der Ohnmacht der Liebe. Gott will selbst eher nicht mehr sein (sterben am Kreuz in Christus), als seinen Weg der Liebe aufzugeben. Also lässt er sich kreuzigen, ohne schon wirklich vorher zu „wissen“, ob seine Liebe stark genug ist, daraus wieder aufzuerstehen. Was er vorher erleiden muss, ist mehr als die physische Qual am Kreuz, andere Menschen haben vielleicht noch mehr erlitten. Gemeint ist vor allem die gefühlte Gottverlassenheit (Kreuzeswort aus Psalm 22: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?). Wenn Gott in Jesus war, dann bedeutet das zugespitzt eine göttliche Selbstverlassenheit, das Zweifeln Gottes an sich selbst, an der eigenen Sinnhaftigkeit.
Gott wagt das eigene Scheitern. Die Liebe aber ist ja immer ein Wagnis. Doch sie ist stärker als alle Todesmächte. Darum können wir auf die (Ohn)Macht der Liebe vertrauen auch über unseren Tod hinaus.
Erhard Wurst
Gott wird in der Bibel auch als Richter beschrieben, der über unsere Lebensführung sein Urteil spricht. Eine solche Aussicht kann erschrecken, gibt aber auch Hoffnung auf eine „höhere“ Gerechtigkeit, die von einer irdischen Instanz nicht unbedingt zu erwarten ist. Das „Jüngste“ Gericht ist damit das letztgültige Gericht.
In der christlichen Kunst wird dieses Motiv (Christus als der Weltenrichter) gern ausgemalt, sicherlich auch in (schwarz-)pädagogischer Absicht. Der Mensch ist aber nicht nur entweder „sanftes Schaf“ oder „aggressiver Bock“ (Matthäus-Evangelium 25,33).
Gerichtet-werden im biblischen Sinne ist mehr als die Vollstreckung eines Urteils. Neu-ausgerichtet-werden, etwas wird gerade gemacht, was im Leben krumm war, so wie ein Schmied Eisen bearbeitet und richtet, so stelle ich mir das Gericht Gottes vor. Das kann manchmal auch schmerzhaft sein schon in diesem Leben, aber es ist ein Läuterungsprozess, der hilft.
Und das ist die Tendenz des biblischen Gerichtsgedankens: Nicht Strafe, sondern Rehabilitation.
Erhard Wurst
Ein bekannter Theologe hat einmal gesagt: Jesus hat das Reich Gottes verkündet; gekommen ist die Kirche. Nein, das Reich Gottes ist die Kirche wahrlich nicht. Aber sie ist dennoch vorläufig wichtig. Die Geschichte der Kirche kann als Geschichte von Versagen, Schuld und Irrtümern beschrieben werden. Dazu fallen jedem Stichworte ein wie Kreuzzug, Scheiterhaufen und Kriegspredigten. Allerdings, die Französische Revolution, das Fanal der Aufklärung mit ihrem Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hat in ihrem Verlauf auch viele Köpfe auf der Guillotine rollen lassen und das ziemlich wahllos. Dennoch wird niemand die befreiende Rolle der Aufklärung in Frage stellen wollen.
Dieser Einwand vermindert die Schuld der Kirche natürlich nicht, denn sie hätte es besser wissen müssen. Es zeigt nur, dass die Sinnhaftigkeit einer Institution nicht allein an ihrer Geschichte gemessen werden darf. Die Kirche ist eng verwoben mit den weltlichen Abläufen, weil sie ja in die Welt hineinwirken will. Leider vermischen sich dann oft weltliche und geistliche Motive. Die Kirche hat sich missbrauchen lassen, manchmal auch bereitwillig. Nicht immer kam ein Schuldeingeständnis.
Dennoch ist Kirche wichtig als diakonische Kraft, die etwas zum Wohle des Nächsten (oder Fernsten) bewirkt. Und sie ist wichtig als moralische Kraft, die sich von einer höheren Instanz ableitet. Ein bloßer Humanismus hingegen, der sich selbst als voraussetzungslos versteht, wird beliebig. Denn was human ist, das wurde und wird sehr verschieden beurteilt.
Kirche ist wichtig als eine Art Kontrastgesellschaft zur weltlichen Effektivitätsgesellschaft. Wir gehen nicht auf in dem, was wir leisten. Und Kirche ist wichtig zur Weitergabe des Glaubens an die nachfolgende Generation. Die Familie allein oder eine „allgemeine religiöse Bildung“ kann das nicht leisten.
Für all diese Aufgaben bedarf es einer gewissen Organisation und eben auch einer hinreichenden Finanzierung. Die sogenannte und oft gescholtene „Amtskirche“ hat ihre Berechtigung, sie muss gewisse Standards gewährleisten und die einzelnen Gestaltungsfäden zusammenführen. Dabei darf das „Amt“ allerdings nicht den Inhalt verdunkeln. Kirche ist aber vor allem auch wichtig als erlebbare Gemeinschaft vor Ort, als Bestärkung, weil der Glaube sonst dünn wird und verdunstet. Der Austausch innerhalb der Gemeinde ist zugleich ein kritisches Korrektiv, weil der einzelne Glaube sonst zu einem beliebigen Wunschgebilde auswuchert.
Diese gern gelebte Gemeinschaft steht allerdings manchmal in der Gefahr, nur noch sich selbst zu genügen. „Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie für andere da ist.“ (Dietrich Bonhoeffer)
Erhard Wurst
An Landstraßen steht es manchmal, am Straßenrand, dort, wo ein Mensch durch Unfall zu Tode gekommen ist. Und auf Friedhöfen sowieso. Das Kreuz, ein Zeichen des Todes? Ein Zeichen des Gedenkens allemal. Auf Berggipfeln ist es zu sehen, auf Kirchturmspitzen und in der Kirche auf dem Altar. Für Christen ist es ein Zeichen des Lebens. Die Kreuzigung war im Römischen Reich die übliche Todesstrafe für Verbrecher. Jesus von Nazareth wurde auf diese Art hingerichtet. Von außen betrachtet eine Niederlage.
Aber es ist doch auch ein Zeichen dafür, dass einer sich nicht von seinem Weg hat abbringen lassen, dass er seinen Weg konsequent weiter gegangen ist. Denn er hätte sich auch retten können durch eine geschickte Verteidigung oder durch Widerruf. Was hätte er widerrufen müssen?
Jesus, genannt „König der Juden“, war des Aufruhrs verdächtig. Er konnte Menschen begeistern. Das ist Herrschern immer suspekt. Jesus, genannt „Gottes Sohn“, war der Gotteslästerung angeklagt. Sich Gottes Sohn nennen zu lassen, das war in den Ohren der Priester ungeheuerlich.
Jesus, genannt „Christus“ (der Gesalbte), hatte von Gottes Liebe so anschaulich gesprochen und in diesem Sinne so bedingungslos gehandelt, dass sich bei den Zuhörern und den Beteiligten das Gefühl einstellte: Ja, Gott ist wirklich gegenwärtig, jetzt in diesem Augenblick!
Hätte er also Gottes Liebe widerrufen sollen?
Das Kreuz ist ein Zeichen der konsequent gelebten Liebe Gottes auch dann, wenn sie vordergründig scheitert. Jesus ist am Kreuz gestorben. Aber die Liebe Gottes lebt. Das Kreuz ist so etwas wie der Schnittpunkt zwischen Hass und Liebe, zwischen Gewalt und Friedfertigkeit, zwischen Tod und ewigem Leben. Gott hat sich in Christus den Spannungen dieser Welt ausgesetzt und ist sich selbst darin treu geblieben. Darum ist das Kreuz zum Zeichen der Kirche geworden. In diesem Zeichen versammeln sich Menschen, die in ihrem Leben auf die Liebe Gottes vertrauen wollen.
Erhard Wurst
Warum gibt es das Leiden und das Böse in der Welt, wenn Gott doch ein barmherziger Gott sein soll? Könnte er es nicht einfach abschaffen? Das ist eine der großen Fragen der Glaubensgeschichte, die immer wieder gestellt wird und auf die ich auch keine schlüssige Antwort weiß. Ich habe nur Antwortversuche.
Eine Teilantwort ist, dass Gott uns in einer Welt mit bestimmten (von ihm geschaffenen) Naturgesetzen leben lässt, die so wirken, weil sie in dieser Art in sich aufeinander bezogen sind. Dazu gehört, dass es körperlichen Schmerz gibt, der ja auch eine körperliche Funktion hat. Dazu gehört, dass es eine Nahrungskette gibt, in der sich das eine Lebewesen vom anderen ernährt. Dazu gehört, dass es Stürme gibt und Erdbeben und Vulkanausbrüche, weil der Planet Erde eben in dieser Weise „funktioniert“. Das erklärt natürlich noch nicht, warum dabei Menschen zu Tode kommen.
Eine weitere Teilantwort ist, dass der Mensch in einem weit gesteckten Raum der Willensfreiheit lebt. Er kann sich in bestimmten Situationen so oder so entscheiden, muss dann aber auch die Konsequenzen seiner Entscheidung tragen. Dazu gehört, dass er z.B. als starker Raucher mit Krankheitsfolgen rechnen muss. Dazu gehört, dass ein Bergsteiger die Gefahr kennt, in die er sich begibt, das Gravitationsgesetz wird dadurch nicht aufgehoben. Das erklärt natürlich noch nicht, warum gerade dieser Mensch bei einem Verkehrsunfall unschuldig zu Tode kommt.
Aber es erklärt, warum es Kriege gibt, denn die sind menschengemacht. Leid und Krankheit als Strafe oder „Prüfung“ Gottes zu bezeichnen, halte ich für eine sehr gewagte Spekulation. Bei allen Erklärungsversuchen bleibt die Frage, warum es Leid gibt, letztlich doch offen.
Vielleicht muss das auch so sein. Vielleicht müssen wir mit dieser offenen Frage leben. Was wäre denn aber auch, wenn wir diese Frage exakt beantworten könnten? Wir hätten Gott eingebaut in unser Gedankengebäude, ihn festgelegt, einsortiert in unsere Schubläden, er wäre nicht mehr Gott.
Erhard Wurst
Martin Luther wurde am 10 November 1483 in Eisleben geboren. Als Jurastudent, Mönch und Theologieprofessor suchte er mit ganzer Leidenschaft eine Antwort auf die Frage: Wie kann ich vor Gott bestehen? Was erwartet Gott von mir? Wie kann ich ein gottgefälliges Leben führen?
Luther dringt im Studium der Bibel zu der paulinischen Erkenntnis vor, dass letztlich nicht durch die menschlichen guten Werke das Heil erlangt werden kann. Er stellt die damalige kirchliche Praxis des Ablasshandels in Frage, formuliert 95 Thesen und fordert in Wittenberg zu einer Diskussion darüber auf. Daraus entwickelt sich in der Konsequenz ein Reformprozess, der polarisiert und den er nur mit der Unterstützung seiner Kollegen an der Universität (Philipp Melanchthon) und seines Landesherrn (Friedrich der Weise, freilich aus politischen Gründen) bestehen kann. Bekannt ist sein Auftreten vor dem Reichstag zu Worms („Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“), sein Aufenthalt unter dem Pseudonym Junker Jörg auf der Wartburg, seine Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache und die Reform des Gottesdienstes.
Mit seinen Schriften verbreitet sich Luthers Lehre europaweit. Er gilt als der Gründer der evangelischen Kirche, obwohl es ihm eigentlich nur um eine Neuausrichtung der einen Kirche Jesu Christi ging. Luther heiratet Katharina von Bora und etabliert damit gewissermaßen das protestantische Pfarrhaus. Er war ein ebenso intellektueller wie volkstümlicher Mensch, ein mitreißender Prediger und einfühlsamer Seelsorger.
Luther stirbt auf einer Reise am 18. Februar 1546 in seiner Heimatstadt, in seiner Hand ein Zettel mit seiner letzten Notiz: „Wir sind Bettler, das ist wahr“.
Erhard Wurst